Die Prozession auf Bali

1997 war ich für eine längere Zeit auf Bali. Ich hatte das Glück, am größten religiösen Fest teilnehmen zu können. Es zog sich über mehrere Tage hin. Den Abschluss bildete eine Prozession mit tausenden von Menschen, so farbenprächtig gekleidet, wie man es von Fotos her kennt. Stundenlang gingen wir bei großer Hitze durch die Dörfer und Felder. Ich hatte mich genauso gekleidet wie es die religiöse Zeremonie vorschrieb und blieb trotzdem der Ausländer, der sich inmitten der vielen Menschen allein fühlte. Irgendwann spürte ich plötzlich eine kleine Hand in der meinen und sah in die Augen eines kleinen Jungen. Gleich darauf ergriff ein zweiter meine andere Hand. In dem Moment wusste ich: Für sie gehöre ich jetzt dazu, ich, der Ausländer.

Es war ein besonderer Augenblick, den ich da erlebte. Ein Augenblick des Glücks für den Reisenden, der sich dazu gehörig fühlen darf. Und ein Augenblick, der mich an die vielen Prozessionen meiner Kindheit erinnerte. Zwischen diesem balinesischen Ritus und dem katholischen Ritus lagen Welten, und dennoch fühlte sich alles unglaublich vertraut an.

Das Glück ging aber auch einher mit Schmerz. Schmerz darüber, dass es diese Art von Glück für mich nicht mehr geben wird. Es gehört zu einem Verständnis von Welt und Mensch, das ich nicht mehr teile und zu einem Mythos, der für mich seine Kraft verloren hat.

Mein erster Ausflug auf Bali fiel mir ein. Ich hatte einen Tempel besucht und mich einer deutsche Reisegruppe angeschlossen, die von einem jungen Balinesen geführt wurde. Als wir vor zwei steinernen Drachen standen, erklärte er uns: „Die Leute meinen, wenn es Erdbeben gibt, hat der Drache seinen Schwanz bewegt.“ Und lachend fügte er hinzu: „So hat mir das mein Vater erzählt, als ich ein Kind war. Er glaubte daran und ich natürlich auch.“ Sein Lachen sagte auch: Ich weiß es heute besser als mein Vater. Ich glaube nicht mehr daran, dass Erdbeben durch Drachenschwänze hervor gerufen werden. Dieser Augenblick elektrisierte mich. Das sind die Momente, durchfuhr es mich, in denen ein Mythos seine Kraft verliert. Er vermag die Welt nicht mehr zu erklären.

Während ich mit den beiden Jungens an der Hand weiterging und meine letzten Eukalyptusbonbons mit ihnen teilte, gesellte sich zu dem Schmerz über das Verlorene auch eine Erregung über das Neue, das auf mich wartete: das Finden und Gestalten meines eigenen Mythos. Diese Herausforderung hat mich seitdem in Atem gehalten, mich angetrieben, inspiriert und beflügelt und wird es hoffentlich noch lange tun.